Crunchy Square Dance

Die künstlerische Arbeit von Christine Braun ist wesentlich von ihrer partizipatorischen Praxis gekennzeichnet. Im lustvoll ironischen Umgang mit verschiedenartigen Materialien und dem jeweils zur Verfügung stehenden Ausstellungsraum sowie der mit diesen Gegebenheiten zum Agieren gezwungenen Rezipienten errichtet sie außergewöhnliche Parcours der Wahrnehmung wie auch der Selbstwahrnehmung.

Gleich beim Betreten des Eingangsbereichs der Schorndorfer Schau nötigt sie so jedem Vernissagenbesucher die Abnahme eines Gesichtsabdruckes vermittels eines Stücks schwarzer Alumiumfolie ab. Als wäre damit beispielhaft eine etwa aus dem Alten Ägypten oder Asien stammende Kulthandlung – von Bestattungszeremonien o.ä. – in ein zeitgemäßes Instantverfahren übertragen worden, präsentiert die Künstlerin die auf diese Weise erhaltenen Masken zusammen in einem der nachfolgenden Galerieräume. Will sich nun aber der Betrachter vergewissern, ob die von ihm ante mortem vorgenommene Abformung – ich stimme zu (2018) – gelungen sei und tatsächlich einen angemessenen Platz in der prophylaktischen Ahnenreihe kunstinteressierter Mitmenschen erhalten habe, sieht er sich einem weiteren Hindernis gegenüber.

In exakt eingerichteten Planquadraten nämlich von 50 auf 50 Zentimetern hat Christine Braun in einem orthogonalen Raster über 20.000 Teile Maisgebäck auf dem Fußboden installiert, die wie mit Luft aufgepuffte, brüchig blonde Haarstoppeln aus dem dunkelgrauen Estrich emporsprießen. War die Lebendmaske noch im Verlaufe weniger Sekunden hergestellt, stockt und dehnt sich in Anbetracht dieser anmaßenden Vermaßung der Bodenfläche die Zeit ganz augenblicklich. Je nach Temperament, Aufmerksamkeit oder auch Beweglichkeit der Adressaten werden erkennbar je individuelle Strategien entwickelt, um sich den künstlerisch-künstlich modifizierten Raum selber anzueignen. Anfangs möglicherweise noch ungewiss, aus welchem Material die vielen wurmkrummen Stalagmitlein bestehen (Kunststoff, Füllsel oder Knabberei?), welche Konsistenz sie besitzen, wie fest sie an dem ihnen zugeschriebenen Platze stehen und welche Konsequenzen eine eventuelle Beschädigung oder sogar die Zerstörung des vor uns ausgebreiteten Kunstwerkes nach sich zögen, beginnt der Tanz. Mit vorsichtig gewählten Storchentritten und einer leidlich geübten Körperkoordination könnte dem von der Künstlerin aufoktroyierten Bewegungsmuster gefolgt werden, ohne allzu viel Kollateralschäden anzurichten, nicht zu reden von der sinnlichen Vorahnung dessen, welch crunchy krachende Geräusche die unter den Schuhsohlen zermalmten Maisstücke hervorbrächten. Der kulturbeflissenen Gängelei zur ewigen Sorgfaltspflicht jedoch bald überdrüssig befiele einen andererseits leicht einmal die Leidenschaft zur Überschreitung, um – im massenhaften Angesicht der braun’schen Pufuleti-Säulchen – selbst hier noch der immerwährenden Dialektik von Angst und Lust im Sinn von Georges Bataille nachzuspüren: „Wenn wir das Verbot befolgen, wenn wir ihm unterworfen sind, haben wir kein Bewusstsein mehr davon. Aber im Augenblick des Überschreitens empfinden wir Angst, ohne die es das Verbot nicht gäbe: das ist die Erfahrung der Sünde. Die Erfahrung führt zur vollendeten Überschreitung, zur geglückten Überschreitung, die das Verbot aufrechterhält, um es zu genießen.“*

Ist dieses seriell gerasterte Bodentableau einer Eat Art der anderen Art, das den anarchen Überschwang der Dinge gegen ihr zweck- und konsumbestimmtes Ausgangsmaterial feiert, schließlich doch passiert und wird der Rückzug angetreten, mahnt sodann ein Sinnspruch zum Verweilen. Aus zuckrigem Isomalt und Pigment hat ihn Christine Braun eigenhändig in Schreibschriftlettern ausgegossen und die einzelnen Begriffe fragil auf Stiften montiert, um die Wortfetzen – gleich welchen Ursprunges sie sein möchten – links und rechts eines Durchganges anzubringen. Unwillkürlich erliegt man zunächst der süßen Versuchung, erst die eine Seite und danach die andere je für sich zu lesen. Die mutige Lektüre ergibt dagegen im geradlinigen Übersprung der beiden Wandscheiben die einleuchtendere Erkenntnis, „ungewissheit zulassen erforder[e] manchmal nicht mehr als die preisgabe der illusion von sicherheit“.

Clemens Ottnad

*Georges Bataille, Die Erotik, München 1994, S.40f.