1000 Fragen an die Kunst: Über die Tagesskulpturen

Da rekelt sich ein Staublappen auf einem Sockel, Bierflaschenmanschetten entwickeln ein kreatürliches Eigenleben, zwei Baumschoten umschlingen sich wie im Tanz, Zettel, Stoffe, Verpackungen, Gewachsenes und Gebautes, Gefundenes und Eigenes, Einzelnes und Gruppiertes, Gestapeltes und Drapiertes, durchweg Alltägliches, gern Übersehenes, grundsätzlich Funktionales blickt uns hier stolz von einem Sockel entgegen. Man kann nur Staunen über diese neue Grazie der Gebrauchsgegenstände, die gewitzte Raffinesse des Arrangements, die unvermutete formale Schönheit des ganz Gewöhnlichen.

Tagesskulpturen nennt Christine Braun ihre Werkserie von rund 1000 Fotografien, da fragt man sich unversehens, warum denn Fotografie, wenn Skulptur? Für die Tagesskulpturen entwickelte Christine Braun im Sinne einer Versuchsanordnung zwischen 2010 und 2013 zwar nicht zwingend täglich eine Skulptur, aber doch Skulpturen die an einem Tag und für einen Tag gemacht worden waren. Diese positionierte sie auf einem Sockel und fotografierte sie ab. Die Skulpturen selbst blieben nicht erhalten. Mit diesem Prozedere erteilt Christine Braun gleich zwei gängigen Erwartungshaltungen eine Absage: Dem Ewigkeitsanspruch, der trotz aller Aufgeklärtheit an der Bildhauerei klebt wie das Dokumentarische an der Fotografie, und dem Kult des Originals, indem sie die fotografische Spur der Skulptur zum eigentlichen Werk deklariert. Und überhaupt stellt die Künstlerin mit jeder einzelnen Tagesskulptur augenzwinkernd liebevoll Fragen an die Kunst, unzählige experimentelle Erkundigungen nach jenen universellen Gesetzmäßigkeiten, seien sie mythisch oder formal, die in einem Kunstwerk zum Tragen kommen. Werfen wir einen Blick auf einige davon.

Die Verwendung der Fotografie als Medium ist natürlich einerseits der direkten und spontanen Übersetzung von einer Idee in Form geschuldet, die Konstruktionen sollten gar nie länger als für den Moment halten. Andererseits entwickeln aber genau diese Übersetzungen vom Objekt zum Bild ein erstaunliches fotografisches Eigenleben. Manche der Fotografien sind eher klassisch als Abbilder konzipiert, sie lichten das künstlerische Objekt ab, um mit zweidimensionalen Mitteln seine Existenz im Sinne einer Dokumentation zu bezeugen. Andere Fotografien wiederum generieren eine neue Sichtweise, die dem Objekt selbst vorher gar nicht inhärent war. Da stellt Christine Braun das Bild einer Farbfläche auf einen Sockel, schichtet davor in einem wagemutigen Balanceakt zwei farbige Kugeln aus Holzspänen und die Fotografie gaukelt uns eine Farbfeldmalerei vor, die ihre volle Wirkung eben erst durch die fotografische Negierung der Dreidimensionalität entfaltet. Da erscheint allein durch die Enge des fotografischen Bildausschnitts ein drapierter Plastikmüllsack wie das Porträt eines traurigen Mannes, auf Sockel und Wand flächendeckend angebrachte Notizzettel lassen den Sockel in der Fläche einfach verschwinden und eine über den Sockel gebreitete Plastiktischdecke behauptet sich als Farbfeld gegen die weiße Fläche des Bildraums. Bei jedem Werk der Serie stellt sich aufs Neue die Frage: Sehen wir hier ein Bild oder eine Fotografie?

Selbst der Sockel, eigentlich kontextuelle Ablagefläche statt Teil des Werks, gerät in seiner Gewissheit bei Christine Braun ins Kippeln. Er fungiert zwar immer noch brav als Standbein, genauso oft mutiert er aber gleichzeitig zu einer Art „Spielbein“. Spielend erhebt er alles, was auf ihm präsentiert wird in den Rang eines Kunstwerkes. Und spielerisch weiß die Künstlerin diese mithin magische Kraft in ihrer Werkserie zu hinterfragen. Der Betrachter muss bei jeder Tagesskulptur selbst für sich entscheiden, ob der Sockel denn nun gerade tragfähig ist oder eher unerträglich eigennützig. Man war sich selten der Persönlichkeit eines Sockels – oder überhaupt eines Sockels – so bewusst.

Als ähnlich doppelbödig erweisen sich die Sujets. Da nimmt die Künstlerin nonchalant eine Handvoll ungekochter Spaghetti, umwickelt sie auf halber Höhe mit einem Band und fächert sie so auf, dass sie stehen können, zumindest für den Moment. Als Betrachter sieht man auf den ersten Blick Nudeln auf einem Sockel. Ein Ready-made? Ein Symbol? Aber wofür steht denn bitte die italienische Allerweltslangnudel? Natürlich werfen die verwendeten Materialien, die ja irgendwie im Laufe eines Tages der Künstlerin über den Weg gelaufen sein müssen, kleine Schlaglichter auf Leben und Persönlichkeit der Künstlerin. Doch das nur ganz am Rande. Denn genaugenommen erscheinen die Gegenstände aufgrund der distanziert künstlerischen Präsentation ihrer eigenen Dinglichkeit enthoben, die Dinge werden zu Formen. Die Spaghettinudeln erhalten ihr filigranes Gleichgewicht durch eine komplexe In-sich-selbst-Verdrehtheit, fast haftet ihnen dank der Tailliertheit etwas manieriert Figürliches, ja bewegt Tänzerisches an. Hier wird in bester künstlerischer Manier Material und Möglichkeit ausgelotet, Farbe, Wirkung, Größe, Masse, Statik. Nudeln bleiben sie trotzdem. Ebenso – als weiteres Beispiel – die orangefarbene Decke, die scheinbar nachlässig auf den Sockel geworfen, diesen nun mit elegantem, nahezu mittelalterlich beredtem Faltenwurf rahmt. Ist sie nun Rahmen oder Motiv? Gegenständlich oder abstrakt? Ding oder Form? Fragen über Fragen. Und genau darum geht es.

Denn alle Tagesskulpturen sind zugleich künstlerische Form und gebräuchliches Ding, sind ebenso Teil einer offengelegten künstlerischen Inszenierung wie auch deren Nutznießer. Sie basieren auf eben jenen Mythen und Methoden der Kunstgeschichte, die sie gleichzeitig augenzwinkernd hinterfragen. Sie sind Kunst und Frage zugleich und man wünschte sich fast, dass Christine Braun die Gewissheiten sämtlicher Lebensbereiche so leichtfüßig humorvoll und passgenau abklopfen würde, wie jene der Kunst.

Vivien Sigmund